Der Profit ist die Ursache für schlechte Löhne

Die EU ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Dennoch ist jeder fünfte Mensch in der EU arm. Warum gelingt es den Gewerkschaften EU-weit nicht, der Umverteilung von unten nach oben etwas entgegenzusetzen? Von Özlem Alev Demirel

In den Gewerkschaften ist die Einstellung gegenüber der EU mehrheitlich sehr positiv. Dabei waren es die EuGH-Urteile zu „Rüffert“, „Laval“ und „Viking“, die deutlich machten, dass die sogenannten Grundfreiheiten der EU (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) die Interessen des Kapitals tbedienten.

Im Fall „Rüffert“ (2008) urteilte der Europäische Gerichtshof, dass es gegen die Dienstleistungsfreiheit sprechen würde, wenn staatliche Institutionen bei der Vergabe öffentlicher Leistungen die Einhaltung von Tarifverträgen zur Voraussetzung machten. Dies öffnete in ehemals staatlichen Leistungsbereichen Tor und Tür für Tarifdumping.

Im Fall „Laval“ (2007) wurden lettische Bauarbeiter zu lettischen Arbeitsbedingungen auf einer Baustelle in Schweden eingesetzt. Die gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen gegen diese Praxis wurden vom EuGH als europarechtswidrig bezeichnet.

Im Fall „Viking“ (2007) streikten finnische Seeleute gegen die Ausflaggung nach Estland, was auch eine Tarifflucht aus dem finnischen Tarifvertrag in estnische Löhne bedeutete. Auch dieser Streik wurde vom EuGH als europarechtswidrig bewertet, weil es der Niederlassungsfreiheit der EU widerspräche.

All diese Urteile waren ein Schlag ins Gesicht für abhängig Beschäftigte und ihre Interessenvertretung, weil sie zeigten, dass die Grundstruktur der EU-Verträge der gewerkschaftlichen Schutzfunktion der Beschäftigten diametral gegenüberstand. Dieser Eindruck hat in der Folge der Eurokrise erneut Nahrung bekommen. In mehreren südeuropäischen Staaten haben die Troika-Vorgaben dazu geführt, dass staatliche Unterstützung der Tarifvertragssysteme und des Lohnniveaus abgebaut oder gar gänzlich aufgelöst wurden.

In den europäischen Staaten ist das Niveau der Tarifbindung ohnehin schon immer sehr unterschiedlich gewesen. Während in Österreich das Kammersystem für nahezu einhundertprozentige Tarifbindung und in den skandinavischen Ländern die Anbindung der Gewerkschaften an die Sozialversicherungen für einen sehr hohen Organisationsgrad und entsprechende Durchsetzungsfähigkeit sorgen, waren es in einigen südeuropäischen Ländern insbesondere allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge, die trotz deutlich niedrigerer Organisationsgrade für die Einhaltung eines gewissen Tarifniveaus gesorgt haben.

Diese Allgemeinverbindlichkeit wurde in mehreren südeuropäischen Staaten von der Troika direkt bekämpft. So gab es in Griechenland 2010 noch 65 allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Nur vier Jahre später waren es nur noch 14. In Spanien waren 2008 noch zwölf Millionen Beschäftigte im Geltungsbereich von Flächentarifverträgen. Nach den Troika-Maßnahmen hatte sich diese Zahl um zwei Drittel reduziert.      

Deshalb ist die Anhebung der Tarifbindung die wesentlichste Aufgabe der Gewerkschaften in der EU. Dafür ist aber neben starken gewerkschaftlichen Kämpfen in den Betrieben auch eine fundamental andere Ausrichtung und Politik notwendig. Während die EU mit verschiedenen Regionalförderprojekten zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse beitragen will, befördern ihre Grundstruktur sowie ihre konkrete Politik die ökonomischen Ungleichgewichte.

Die EU-Grundfreiheiten sind Ausdruck sehr ungleicher Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit auf europäischer Ebene. Dem Kapital gelingt es, sich einerseits international zu vernetzen und andererseits – zumindest in den größeren Ländern – die eigenen nationalen Interessen über die EU durchzusetzen. Selbstverständlich haben Gewerkschaften deutliche strukturelle Nachteile, wenn sie sich international vernetzen wollen oder wenn sie Druck auf die europäischen Institutionen ausüben wollen. Dass bei den Gewerkschaften aber auch manchmal Standortvorteile oder lokale oder nationale Egoismen Einfluss auf das Agieren haben, ist ein offenes Geheimnis.     

Doch es gibt erfolgreiche Kämpfe. So wurden insbesondere auch durch gewerkschaftliche Unterstützung über 2 Millionen Unterschriften gegen eine Richtlinie zur Liberalisierung der Wasserversorgung gesammelt. Die geplante Richtlinie zu dem Thema wurde zurückgezogen.

Teile der Gewerkschaften waren zudem wichtiger Akteur bei den Protesten gegen TTIP und CETA und haben entscheidend zur Mobilisierung gegen die Bolkestein-Richtlinie beigetragen. nDas bedeutete, dass das sogenannte Herkunftslandprinzip nicht in allen Branchen und nicht in allen Regelungsbereichen Anwendung findet.

Nicht nur in politischen, sondern auch bei Arbeitskämpfen spielt die Frage der Internationalisierung eine immer größere Rolle. Bei Amazon konnten im letzten Jahr internationale Streiks organisiert werden, bei denen in mehreren europäischen Staaten gleichzeitig gestreikt wurde. Durch die unterschiedlichen Organisationsgrade in den Ländern, in denen Amazon tätig ist, ist es allerdings noch ein langer Weg bis diese Streiks so schlagkräftig werden, dass tatsächlich europaweit Tarifverträge bei dem Unternehmen durchgesetzt werden können. Amazon verweigert weltweit  kollektivvertragliche Regelungen.

Ein Gegenbeispiel ist hier der Arbeitskampf bei der Fluggesellschaft Ryanair. Dort haben die Beschäftigten zuletzt innerhalb von einem Jahr einen Tarifvertrag erkämpft, in dem mitunter gar Lohnverdoppelungen vorgesehen sind. Es war gerade der Druck auf die europäischen Institutionen, der für ein Urteil des EuGH sorgte: Bei Ryanair-Beschäftigten muss jeweils national untersucht werden, in welchem Land der Arbeitsschwerpunkt liegt und welches Gehalt demnach gezahlt wird. Dies führte zu Rückenwind, der in die internationalen Kampagne „#cabincrewunited“ mündete. In nur drei Monaten wurden Kolleg*innen an 86 europäischen Standorten von der internationalen Transportarbeitergewerkschaft ITF angesprochen. In mehreren Ländern wurde gleichzeitig gestreikt und verhindert, dass die Fluggesellschaft einen internationalen Streikbruch organisiertnAuf europäischer Ebene können Kämpfe  gewonnen werden. Sie müssen allerdings sowohl strukturell als auch politisch wesentlich höhere Hürden überwinden, als dies in vielen europäischen Ländern auf nationalstaatlicher Ebene der Fall ist. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass der Ausgangspunkt der EU und ihrer Vorgänger ohnehin die Bildung einer starken europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie der Aufbau eines gemeinsamen großen Binnenmarktes war. Auch wenn die Gewerkschaften von einer Sozialunion träumten, war dies weder gewollt noch Grundbaustein der Europäischen Union.

Trotz kleiner Verbesserungen, s  bleibt die Grundausrichtung der EU in ihren neoliberalen Wurzeln verhaftet. Wer daran etwas ändern möchte, braucht klare Forderungen, Ausdauer und große Mobilisierung. Dafür brauchen wir als einen entscheidenen Partner auch die Gewerkschaften.

Özlem Alev Demirel ist 34 Jahre alt und Gewerkschaftssekretärin bei verdi. Sie war lange Jahre Landessprecherin der LINKEN NRW und kandidiert für die Linksfraktion im Europäischen Parlament.

Dieser Beitrag ist erschienen im Mitgliedermagazin der „Sozialistischen Linken“ (SL).