NATO-Gipfel: Gute Miene zum bösen Spiel

Vor und während des NATO-Gipfels in London gingen die Meinungen innerhalb des Militärbündnis weit auseinander. „Zank unter Staatschefs“, titelte SPIEGEL Online. Die Ursache liegt in den immer weiter auseinanderdriftenden wirtschaftlichen Interessen ihrer großen Mitglieder. Die NATO wird dadurch aber nicht ungefährlicher. Denn im Windschatten dieser Konflikte geht die Aufrüstung weiter und es droht eine neue Konfrontation mit China.

Ein Kommentar von Özlem Alev Demirel

Die meisten Medien wollen beim aktuellen NATO-Gipfel ein Aufeinanderprallen verschiedener politischer Lager beobachtet haben. Hier die liberalen Verteidiger*innen der westlichen Werte, Angela Merkel und Emmanuel Macron. Dort die autoritären und nationalistischen Autokraten, Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan. Hier die Aufrüster, dort die Diplomaten. Wer die Konflikte beim NATO-Gipfel aber auf diese Formel reduziert, übersieht leicht das Wesentliche: Die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten, welche im Zuge knapperer Märkte und Rohstoffzugänge immer stärker auseinander driften. So stand der türkische Präsident Erdogan nicht deshalb in der Kritik, weil er die demokratischen Rechte in seinem Land weitgehend außer Kraft gesetzt hat und tausende Oppositionelle in türkischen Gefängnissen sitzen. In der Kritik stand Erdogan, weil er nicht alle NATO-Mitgliedstaaten bei seinem blutigen Einmarsch in Nord-Syrien miteinbezogen hatte, sondern sich nur mit den USA und partiell auch mit Russland verständigte. Die Widersprüche sind also real vorhanden, sie liegen aber woanders als im Mainstream vielfach rezipiert.

Die NATO ist ein Kartell imperialer Staaten, die zueinander in Konkurrenz stehen. Zu einem Kartell gehören Reibereien, aber auch die gemeinsamen Projekte, die von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurden: So konnte auf dem NATO-Gipfel vermeldet werden, dass die „Readiness Initiative“ erfolgreich abgeschlossen wurde. Die NATO wird bereits ab dem kommendem Jahr 30 Einheiten von Heer, Luftwaffe und Marine binnen maximal 30 Tagen in den Krieg schicken können. Deutschland könnte mit 7000 Soldaten daran beteiligt werden. Auch das Säbelrasseln gegenüber Russland geht weiter. Im kommenden Frühjahr plant die NATO ihre Großübung „Defender 2020“, bei der 37.000 Soldaten nach Polen und ins Baltikum verlegt werden.

Stolz präsentierte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auch die neuesten „Aufrüstungserfolge“. In diesem Jahr werden alle NATO-Staaten zusammen 989 Milliarden US Dollar für Rüstung ausgeben – sechsmal soviel wie China, sechszehnmal soviel wie Russland.

Dass Deutschland bei diesem Rüstungswettlauf nur unfreiwillig mitspielt und von den USA gedrängt wird, ist ein Mythos. Deutschland ist momentan Motor beim Aufbau einer Europäischen Verteidigungsindustrie und treibt dort mit PESCO eine neue Militärarchitektur voran, welche die EU-Mitgliedsländer dazu drängt, immer mehr Geld in die Kriegswirtschaft zu stecken.

Zum Verbindenden innerhalb der NATO gehört auch Folgendes: Erstmals rückt China in den Fokus der NATO und wird in der Abschlusserklärung beim Namen genannt. Insbesondere die USA vertiefen die Konfrontation mit der chinesischen Volksrepublik. Sie sehen ihre Rolle als einzig verbliebene Weltmacht gefährdet. Allerdings: Washington konnte nicht verhindern, dass in der Abschlusserklärung der wachsende Einfluss Chinas nicht nur als „Herausforderung“, sondern auch als „Chance“ begriffen wird. Ein Ausdruck unterschiedlicher ökonomischer Interessen der NATO-Mitgliedsstaaten. Für Deutschland als Exportland stehen wichtige Zugänge zu Chinas Märkten auf dem Spiel.

Auf dem großen Schachbrett zur (Neu-)Aufteilung der Welt ist eine vertiefende Ost-West-Konfrontation mit Russland und China möglich. Möglich sind aber auch komplett neue Allianzen. Berlin und das deutsche Establishment mischt in diesem Spiel kräftig mit: Zwar treibt sie das Projekt „Militärmacht Europa“ mit allen Kräften voran, möchte aber nicht auf die NATO verzichten, um etwa in Machtkämpfen mit Moskau von Washingtons militärischer Stärke profitieren zu können. Dass Merkel und Maas auf Distanz zu Macrons Absetzbewegungen gegangen sind, könnte auch damit zusammenhängen, dass Deutschland in einem Europa ohne NATO ihre Führungsrolle gegenüber der Atommacht Frankreich verlieren könnte. Merkels jüngste Äußerung, der „Erhalt der NATO“ sei „in unserem ureigenem Interesse“, ist ernst gemeint.

Die NATO hat ihre Funktion als Gegenspieler zum Warschauer Pakt schon vor 30 Jahren verloren. Doch statt Schluss zu machen, werden neue Feindbilder gesucht. Auch um die Widersprüche innerhalb der NATO in den Hintergrund treten zu lassen. Für alle linken und friedensbewegten Kräfte in Deutschland und Europa bleibt die Forderung nach Auflösung der NATO hochaktuell. Dabei dürfen wir jedoch andere Bestrebungen nicht aus dem Blick verlieren. Berlin will zwar nicht auf die NATO verzichten, setzt aber vermehrt auf die Aufrüstung der Europäischen Union. Weder die eine- noch die andere Entwicklung trägt zu mehr Sicherheit und Frieden bei. Statt immer neue Milliarden in die Rüstung zu stecken, ist es an der Zeit, die drängenden sozialen und ökologischen Probleme dieses Planeten zu lösen.