Linke Sicherheitspolitik – eine Replik auf die europapolitischen Forderungen von Matthias Höhn
Özlem Alev Demirel
Mit dem Papier „Linke Sicherheitspolitik“ verfolgt Matthias Höhn, Bundestagsabgeordneter der LINKEN,nach eigenen Angaben die Absicht, vor allem innerhalb der Partei eine Debatte anzustoßen. In der Tat können seine Aussagen so nicht unkommentiert stehen bleiben, denn er fordert die Partei u.a. in seinen europapolitischen Passagen dazu auf, einen überaus problematischen, ja sogar gefährlichen Weg, einzuschlagen. Im Kern plädiert er für eine Europäisierung der Außen – und Sicherheitspolitik als vermeintliche Alternative zu nationalen Militärstrukturen. Doch damit gießt er – bewusst oder unbewusst – noch mehr Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Europäische Union ohnehin als militärische Großmacht in Stellung bringen wollen, um sich dadurch in Zeiten verschärfender Großmachtkonflikte stärker Gehör verschaffen zu können. So wird die anhaltende Großmachtkonkurrenz aber nur weiter befeuert – wenn Matthias Höhn deshalb in seinem Papier „Linke Antworten auf der Höhe der Zeit“ fordert. Er liefert aber selber allenfalls Antworten auf der Höhe des militaristischen Zeitgeistes. Die Konkurrenz zwischen den Großmächten und Wirtschaftsgiganten in der Welt steigt. Die Auseinandersetzungen um Absatzmärkte und Ressourcen werden robuster geführt. Um eigene Vormachtstellungen auszubauen oder zu erhalten, wird verstärkt auf „Hard Power“, also auf Aufrüstung und Militär gesetzt. Aus Handelskriegen entstehen aber auch heiße Kriege. Wer dies verhindern möchte, muss um so mehr die Ursachen und die verstärkte Bereitschaft zur Aufrüstung und Militarisierung angehen.
Europa in der Ära der Großmachtkonkurrenz
In den letzten Jahren nehmen die Konflikte unter den Großmächten spürbar zu – es geht um Rohstoffe, um Absatzmärkte, aber nicht zuletzt auch um die Vorherrschaft im Bereich der neuen Tech-Geopolitik rund um Themen wie Künstliche Intelligenz und dergleichen. Auch Matthias Höhn beklagt in seinem Papier: „Die Vereinigten Staaten, Russland oder China: letztlich geht es auf allen Seiten um geopolitische Einflusssphären und wirtschaftliche Interessen und letztlich sind alle bereit, für den eigenen Vorteil internationale Regeln zu brechen. Das aber ist für linke Politik nicht akzeptabel.“ Wenn von eigenen Vorteilen oder nationalen Egoismen die Rede ist, dann muss aus linker Sicht aber auch deutlich herausgearbeitet werden, wessen Interessens hierbei bedient werden.
Kein*e Arbeiter*in Europa oder den USA hat einen Vorteil, wenn die EU eine militärische Operation in Mali durchführt oder wenn Konflikte in Libyen befeuert werden. Und wenn dort auch europäische Mitgliedstaaten wie Frankreich und Italien Partei ergreifen, dann tun sie es nicht im Interesse der breiten Bevölkerung in ihren Ländern, sondern im Interesse von ENI und Total. Es sind die armen und arbeitenden Menschen, die die Zeche zahlen für Aufrüstung und Krieg, direkt oder indirekt, hier und dort.
Wen Höhn geflissentlich in seiner Auflistung egoistischer Akteure auslässt, ist die Europäische Union, die aus seiner Sicht scheinbar frei von derlei imperialen Interessen zu sein scheint – und der aus diesem Grund wohl auch sorgenfrei ein Militärapparat an die Hand gegeben werden kann. Allerdings genügt ein Blick in das wichtigste sicherheitspolitische EU-Dokument, die EU-Globalstrategie aus dem Jahr 2016, um zu erkennen, dass militärische Interessendurchsetzung auch bei der EU ganz oben auf der Prioritätenliste steht. In dem Papier ist die Rede davon, die EU müsse sich „militärische Spitzenfähigkeiten“ zulegen. Als „Interessen“ nennt es ein „offenes und faires Wirtschaftssystem“ (das Wort „fair“ sollte und nicht täuschen) und den „Zugang zu Ressourcen“. Als mögliche militärische Einsatzgebiete – oder, in den Worten Höhns: „geopolitische Einflusssphären“ – werden Länder östlich „bis nach Zentralasien“ und im Süden „bis nach Zentralafrika“ benannt. Auch der in der Strategie benannte „Schutz“ von Handelswegen „im Indischen Ozean“, „im Mittelmeer“, am „Golf von Guinea“ und sogar bis hin zum „Südchinesischen Meer“ und der „Straße von Malakka“ wird aufgelistet.
So wird derzeit einer neuen Großmachtkonkurrenz das Wort geredet, für die sich die EU buchstäblich rüsten müsse. So bezeichnete etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ als das „herausstechende Merkmal“ unserer Zeit. Deutschland und Europa seien dabei „Teil dieses Konkurrenzkampfs“ und somit „nicht neutral“, weshalb Europa „mehr in die Waagschale legen“ müsse – und damit meinte sie selbstverständlich vor allem mehr Militär.
Vor nicht allzu langer Zeit formulierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell – also quasi der EU-Außen- und Verteidigungsminister – noch deutlicher, dass es in diesem Zusammenhang vor allem darum geht, die EU als militärischen Akteur gegen die USA und China ins Feld zu führen: „Um zu vermeiden, dass wir zu den Verlierern des Wettbewerbs zwischen den USA und China werden, müssen wir die Sprache der Macht neu erlernen und uns selbst als geostrategischen Akteur der obersten Kategorie begreifen. […] Ob durch den Einsatz der europäischen Handels- und Investitionspolitik […] oder durch die stärker werdenden Sicherheits- und Verteidigungsinstrumente — wir haben viele Ansatzpunkte, um Einfluss zu nehmen. (…).“
In diesem Zusammenhang sind die seit einiger Zeit noch einmal drastisch intensivierten Anstrengungen zum Aufbau europäischer Militärstrukturen und eines europäischen rüstungsindustriellen Komplexes zu sehen.
Militärmacht Europa formiert sich
Ein wichtiger „Meilenstein“ beim Ausbau des EU-Militärapparates war die bereits erwähnte Verabschiedung der EU-Globalstrategie, der im Juni 2017 die erstmalige Einrichtung eines so genannte „Militärische Planungs- und Führungsfähigkeit“ (MPCC) EU-Hauptquartiers zur Führung von EU-Militäreinsätzen folgte. Ein weiterer wichtiger Schritt war im Dezember desselben Jahres die Aktivierung der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. PESCO). Sie bindet alle 25 teilnehmenden EU-Staaten an die Einhaltung zahlreicher Aufrüstungskriterien und bietet ihnen dafür einen Rahmen zur Durchführung länderübergreifender Militärprojekte. Bislang wurden bereits 47 PESCO-Projekte gestartet, das prominenteste davon ist der Bau einer bewaffneten Eurodrohne.
Noch in diesem Jahr soll es eine weitere PESCO-Projektrunde geben, dabei könnten dann auch der Bau eines neuen Kampfpanzers (MGCS) und eines Kampfflugzeuges (FCAS) zu PESCO- Projekten werden. Neben der Eurodrohne handelt es sich dabei um die derzeit wichtigsten Rüstungsgroßprojekte, die sich als europaweite Standardsysteme etablieren und sich auf dieser Basis auch als Exportschlager auf den Weltmärkten bewähren sollen.
Finanziert werden soll der Bau dieser und anderer Großprojekte über den „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF), der explizit dafür gedacht ist, ausschließlich multinationale Rüstungs-Vorhaben zu subventionieren und so zur Herausbildung eines europäischen rüstungsindustriellen Komplexes beizutragen. Mit dem im Dezember beschlossenen Mittelfristigen Finanzrahmen (MFR) wurden nun auch erstmalig diverse EU-Militärbudgets eingerichtet: 15 Mrd. Euro für militärisch relevante Weltraumprogramme, etwa 1,7 Mrd. Euro für „Militärische Mobilität“, knapp 8 Mrd. Euro für den EU-Verteidigungsfonds zur Erforschung und Entwicklung von Rüstungsgroßprojekten. Bedenkt man, dass bei jedem EVF-Projekt eine nationale Ko-Finanzierung von 70-80 Prozent erfolgen soll, kommt hier eine beachtliche Summe zusammen.
Vor nicht allzu langer Zeit wäre ein EU-Rüstungshaushalt undenkbar gewesen. Dass dies seit diesem Jahr der Fall ist, wird ihren Charakter unweigerlich noch einmal ein gutes Stück weiter in Richtung einer militarisierten Großmacht verschieben. Die LINKE hat es sich stets zur Aufgabe gemacht, diese Entwicklungen in die Öffentlichkeit zu tragen und diese zu kritisieren und sich dem entgegen zu stellen. Es ist aus meiner Sicht wichtiger denn je, dass sie dies weiter tut. Stattdessen attestiert Höhn der LINKEN ein „ungelöstes Europa-Problem“, welches erfordere, sich über „Ziele und Mittel einer europäischen Sicherheitspolitik“ neu zu verständigen.
Europäisierung der Militärpolitik: Keine Alternative
„Die EU muss sich“ so Höhn, „als politischer Akteur mit eigenständigen Interessen, Zielen und Werten verstehen und auch als solcher agieren.“ Das hat sie allerdings längst getan, nämlich in der oben zitierten EU-Globalstrategie, die eine militärische Interessendurchsetzung ganz in dem Stil propagiert, wie er den USA gerne lautstark vorgeworfen wird. Dennoch erfordere der „Ruf nach einer größeren strategischen Unabhängigkeit der EU von den Vereinigten Staaten“ aus der Sicht Höhns eine Stärkung der europäischen Militärstrukturen: „Dazu gehörten in letzter Konsequenz auch die Abgabe der alleinigen nationalen Hoheit über das Militär und der Ersatz zumindest relevanter Teile der nationalen Armeen durch gemeinsame europäische Streitkräfte.“
Damit spielt man aber nur denjenigen in die Hände, die ohnehin der Auffassung sind, nur im Verbund und konzentriert auf EU-Ebene sei man mit „gemeinsamen Streitkräften“ in der Lage, Interessen gegen die konkurrierenden Großmächte wie die USA und China durchsetzen zu können – das ist der Grund für die hektische Betriebsamkeit, die seit einigen Jahren im EU-Militärbereich an den Tag gelegt wird. Dadurch wird der Aufbau eines europäischen Militärapparates aber nicht zu einer Alternative zu nationalen Strukturen, wie Höhn meint, sondern zu ihrem verlängerten Arm.
Gänzlich unbeachtet wird hier auch die demokratische Kontrolle und Transparenz. Einsatztruppen, die der Kommission unterstellt sind, europäische Aufrüstungsprojekte und militärische Maßnahmen sind noch weniger kontrollierbar und komplett intransparent. DIE LINKE sollte statt im Chor der Befürworter einer Europäisierung der Rüstungs- und Militärpolitik mitzusingen, darüber aufklären was das alles bedeuten würde.
Selbstdeklarierte Werte und Verlautbarungen für Menschenrechte und Formulierungen wie z.B. „offenes und faires Wirtschaftssystem“ (Globalstrategie) sollten uns nicht täuschen – weder über den Charakter, noch die Form der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung und Politik. Sowohl die EU Wirtschafts-, als auch Außenpolitik orientiert sich nicht an den Interessen der großen Mehrheit der Menschen, weder in der EU, noch in den USA oder in China und noch weniger an denen der Menschen im Globalen Süden. Am offensten sehen wir es in der EU-Afrika-Strategie: Es geht um den Zugang und die Ausbeutung der Ressourcen, es führt zur Überschwemmung der Märkte mit europäischen Produkten und gipfelt in der menschenfeindlichen und zynischen Migrationspolitik der EU.
Und auch die viel beschworene strategische Autonomie sollte uns nicht täuschen.
Denn wer – durchaus zu Recht – die herrschende Politik der USA oder Russlands beklagt, sollte sich davor hüten, Maßnahmen zu befürworten, die einzig dazu gedacht sind hier nachzueifern und ihnen (militärisch unterfüttert) zugunsten der hiesigen Machthaber Konkurrenz zu machen. Von einer „linken“ Sicherheitspolitik bleibt dann nämlich herzlich wenig übrig, sondern die Kriegsgefahr steigt. Linke Sicherheitspolitik muss Alternativen zu Aufrüstung und Militarisierung aufzeigen.
Die Mehrheit will Frieden
Höhns Plädoyer für einen Militärhaushalt in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes und einer Bundeswehr mit einem Umfang von 150.000 SoldatInnen runden das Gesamtbild negativ ab. Damit singt er allerdings lediglich, mit einer nur unwesentlich anderen Melodie vom selben Blatt, wie dies CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne tun.
Auch Rüstungsinvestitionen in dieser „reduzierten Höhe“ gehen auf Kosten von Umwelt und Sozialpolitik.
Was zudem im Papier von Höhn vernachlässigt wird, ist eine genauere Unterscheidung zwischen der Politik der Nationalstaaten und ihren Bündnissen auf der einen Seite, sowie den Mehrheitsinteressen der jeweiligen Bevölkerungen auf der anderen Seite. Wenn in dem Papier von „nationalen Egoismen“ die Rede ist, dann wurde vergessen hinzuzufügen, dass diese „Egoismen“ nicht den Menschen in den jeweiligen Staaten zu Gute kommen. Wenn Ursula von der Leyen beispielsweise von „europäischen Sicherheitsinteressen“ spricht, dann hat sie nicht die Bevölkerungen in der EU, sondern die Interessen europäischer Großkonzerne im Blick, die sich im globalen Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte ein größeres Stück vom Kuchen versprechen. Wir müssen deutlicher machen: Den Preis für hochgerüstete Staaten wie Deutschland oder hochgerüstete Staatenbündnisse wie die EU zahlen die Menschen vor Ort. Sie leiden darunter, dass die Steuermilliarden in Rüstung und nicht in den Ausbau des Gesundheitssystems, in die soziale Infrastruktur, in Bildung oder andere wichtige Lebensbereichen investiert werden.
Dieser Gedanke soll unseren Blick darauf lenken, wo wir Verbündete im Kampf für eine friedliche Welt finden. In Deutschland gelang es der Friedensbewegung erst vor kurzem – im Zusammenspiel mit der LINKEN und anderen fortschrittlichen Kräften – die SPD soweit unter Druck zu setzen, die Anschaffung von Bundeswehr-Kampfdrohnen auszusetzen. Auf internationaler Ebene sorgt derzeit die länderübergreifende Kampagne von ICAN für die Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrages für Aufsehen. An derartige Prozesse gilt es als LINKE anzuknüpfen, denn was im Kleinen möglich ist, das kann auch im Großen möglich werden. DIE LINKE kann mithelfen, eine engere internationale Vernetzung der friedensorientierten Kräfte in Europa voran zu treiben. Hilfreich hierbei sind klare friedenspolitische Positionen und Glaubwürdigkeit in der politischen Praxis.