Sozialgipfel in Porto: Sieh, das Gute liegt so nah!

Zum bevorstehenden EU-Sozialgipfel im portugiesischen Porto erklärt die sozial- und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Delegation DIE LINKE im Europäischen Parlament, Özlem Alev Demirel:  

Erst zum dritten Mal seit ihrem Bestehen kommt die EU zu einem „Sozialgipfel“ zusammen. Allein dies zeigt schon, dass Sozialpolitik in der Europäischen Union kaum eine Rolle spielt.

Konkrete Beschlüsse zu einer Verbesserung der Lebenssituation von Millionen wären dringend notwendig und auch möglich, aber der Wille fehlt. Angela Merkels Terminabsage zum Sozialgipfel in Porto ist von daher auch eine inhaltliche. Eine Sozialunion im Interesse der Menschen scheint der Bundesregierung egal.
Der Gipfel muss daher zum Anlass genommen werden, den gesellschaftlichen Druck auf die Bundesregierung und EU-Institutionen deutlich zu erhöhen, damit Armut endlich europaweit bekämpft wird.

Wie ein Brennglas hat die COVID-19-Pandemie aufgezeigt, wie der EU-weite Sozialabbau seit der Finanzkrise 2008 gewirkt hat und welche Verwerfungen es im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens, auf dem Arbeitsmarkt und bei der Armutsentwicklung gibt.   

Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten treiben seit Jahren aggressive Sparmaßnahmen voran, die soziale Dienste beschädigen und die sozialen Sicherheitsnetze für die Einwohner*innen schwächen. Von Porto könnte das Signal ausgehen, dass diese gescheiterte Politik ein Ende findet. Könnte.

Dazu aber müsste die EU erkennen, dass sie ihr Ziel der Armutsbekämpfung für 2020 eben deshalb verfehlt hat, weil ihre Ausrichtung nicht die sozialen Belange der Mehrheit der EU-Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt. Es muss Schluss damit sein, dass die Grundfreiheiten des Marktes – der freie Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungen – als Dogma über der Sicherung sozialer Belange in den Verträgen verankert sind.

Während die EU-Kommission in ihrem Wideraufbauplan die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettbewerb als oberste Prämisse rausgibt, kämpfen Millionen Menschen um die Sicherung ihrer sozialen Existenz in dieser Krise. Es braucht soziale Auflagen in allen Fonds der EU und Mindeststandards, die vor Armut schützen und europaweit gelten. 

Jeder fünfte Mensch in Europa ist von Armut bedroht und 20 Millionen Menschen leben trotz Arbeit in einem von Armut bedrohten Haushalt. Bereits in der Finanzkrise haben wir gesehen, dass ohne ambitionierte sozialpolitische Programme die Krisenlasten auf Arbeiter*innen, abhängig Beschäftigte und Arme abgewälzt wurden und Mittelschichten schrumpften.  Es kam zu einem explosionsartigen Anstieg prekärer Arbeits- und Lebenswelten.  Das muss in dieser Krise verhindert werden.  

Dazu ist eine Politik der Umverteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums notwendig. Dazu gehört die nach wie vor ausstehende Besteuerung von Digitalkonzernen, Milliardären und multinationalen Konzernen, sowie eine verbindliche Mindestlohnrichtlinie, die Armut trotz Arbeit ausschließt, Tarifvertragsverhandlungen und Gewerkschaften stärkt und verbindliche soziale Mindeststandards festlegt. 

Doch die Bundesregierung macht grade das Gegenteil: Sie weitet die sozialversicherungsfreie Arbeitszeit für Saisonarbeiter*innen aus. 

Ein besonderes Augenmerk muss auch auf die neuen Formen prekärer Beschäftigung (z. B. „Plattformarbeit“) gelegt werden. In diesem Bereich müssen endlich grundlegenden Standards (Sozialversicherung, Kündigungsschutz, Jahresurlaub, Krankengeld, Koalitions- und Tarifrecht) zur Anwendung kommen, auch weil ansonsten eine weitere Deregulierung der klassischen Normalarbeitsverhältnisse droht.

Ein verbindliches Sozialprotokoll in den EU-Verträgen, in dem unmissverständlich festgelegt wird, dass soziale Grundrechte und sozialer Fortschritt auch im Konfliktfall Vorrang vor wirtschaftlichen „Freiheiten“ und Wettbewerbsregeln haben, könnte einen solchen Politikwechsel absichern. Dafür gilt es zu kämpfen, von allein wird sich auch in und nach Porto die EU-Politik nicht ändern.
Dabei liegt das Gute so nah.